Von den Dichtern gehen Max Brods Erinnerungen heute zu den Musikern, die ihm in Prag begegneten. So schildert er uns Max Reger, den ungeschlachten Riesen und zarten Menschen, bei einem Besuch in der alten Stadt. (Die Zeit, nr. 34, 25 augustus 1955)
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Es war in einem der spannungsreichen, aber (von heute gesehen) noch “harmlosen” Jahre vor dem ersten Weltkrieg.1 Wir standen auf dem Perron des Prager Staatsbahnhofs und sahen im Fenster des eben einfahrenden D-Zuges aus Deutschland eine lebhaft winkende Riesengestalt, deren Ausmaße und Bewegungsrhythmen die gerahmte Öffnung zu sprengen schienen. Wir: das heißt die Herren des “Böhmischen Ouartetts”, von denen mir der Sekondgeiger Josef Suk besonders lieb war. Er hatte mich eingeladen, mitzukommen und den berühmten Gast mitabzuholen. Der winkende Riese war Max Reger.
Was dieser Mann für mich bedeutete, läßt sich schwer oder gar nicht klarmachen. Nichts liebte ich damals mehr, als gemeinsam mit meinem Freund Felix Weltsch, manchmal auch mit dem Geiger Erwin Stein, in häuslicher Intimität Regers Violin-Klavier-Sonaten zu spielen. Namentlich die heute zu Unrecht von Prokofieff verdrängte “Suite im alten Stil”, op. 93. Es war eine Epoche, in der ich (in halb noch kindlicher Berauschtheit) nur drei Musikmeister anerkannte: Bach, Brahms, Reger.
Und nun stand also dieser göttliche Mann vor mir, machtvoll dick, ein Koloß, in die Erde eingewurzelt, ein Heros, zu dem auch leiblich emporzublicken Schicksal und Ehrfurcht mir geboten. Vor drei Menschen bin ich im Laufe meines Lebens so gestanden, ohne in hitziger Erregung auch nur ein einziges Wort herausbringen zu können. Sie waren Sendboten aus höheren Kreisen der Schöpfung: Gerhart Hauptmann, Hofmannsthal, Reger.
Suk kannte ihn schon, hatte schon öfters mit ihm konzertiert. Er führte uns gleich von der Bahn aus in eine der altberühmten Weinstuben auf dem Wenzelsplatz.
Wir sitzen und trinken, Besonders eifrig trinkt Reger. Daheim überwacht ihn seine Frau, so erzählt er unbefangen; auf Konzertreise fühlt er sich frei. Alles geht gut – bis mir eine seltsame Wendung auffällt. Wir loben sein Es-Dur-Quartett, das morgen zur Aufführung kommen soll. Reger hat nichts dagegen, wenn man der Reihe nach dies und jenes Detail begeistert hervorhebt. Seine naive Eitelkeit enthüllt nichts Böses, sie ergötzt. Nun preisen wir die großartige Schlußfuge. Reger winkt ab. “Die wäre noch viel schöner und länger geworden. Ich habe sie in einer Nacht komponiert. Aber da hat mir dann meine Frau die Lampe weggenommen. Leider.”
Aus dionysischen Freuden verfällt er in bitteres Schluchzen. Die Arme liegen auf dem Tisch, das rote Gesicht tränenüberströmt auf den Armen, “Meine arme Mutter. O Gott, meine Mutter, Sie ist im Irrenhaus.” Ich erlebe zum erstenmal solch öffentlichen Leidenschaftsausbruch. Von allen Tischen nebenan wird an auf den berühmten Gast aufmerksam. Auch merkt man mir wohl mein Entsetzen an. Suk stößt mich leicht in die Flanke: “Machen Sie sich nichts draus, mein Lieber. Das erzählt er immer. Aber seine Mutter ist seit zwanzig Jahren tot.”2 Ein leichtfertig unbegründeter Trost zieht in mein Herz ein. Und allmählich bemerke ich an Reger das, was allen längst klar ist.
Er aber kommt erst jetzt in volle Fahrt. Unerschöpflich entsteigen Erzählungen, fröhliche Geschichtchen seinem lauten Mund. Er läßt niemand anderen an die Reihe kommen. Sogar Zustimmung ist ihm unerträglich. Einer beginnt ein Parallel-Histörchen – wird von Reger sofort heftig niedergebrüllt, zu Schweigen verwiesen. Nur von Zeit zu Zeit tritt eine naturbedingte Unterbrechung seiner Rede ein, wenn der mächtige Riese einen Ort aufsucht, zu dem es nun einmal Trinker immer wieder zieht. In seiner Abwesenheit ergreife ich das Wort, berichte irgend etwas. Doch schon ist er wieder da. Noch von der Türe aus, die Linke noch an den Hosenknöpfen, fällt er mir wütend in die Rede, hebt beschwörend die Rechte: “Auf den da hört’s nicht, das is all’s a Lügen. Ich will euch was erzählen, ich …”
Am nächsten Tag, ziemlich erst gegen Mittag, holten wir ihn im Hotel “Blauer Stern” ab, zeigten ihm die Burg. Jetzt war er ernst und großartig. Ich arbeitete damals gerade an meinem Roman “Tycho Brahe”. Die blutvolle, jähzornige Gestalt des großen Astronomen – und der unbändige, seinem Genius völlig hingegebene Komponist – sie verschmolzen in mir zu einem einzelnen lebendigen Menschen. Und so kommt es, daß mein Tycho in vielem die Züge Regers und jener zwei Tage trägt, die ich in Regers Nähe zubringen durfte.
Am Abend vor dem Konzert wurde mir die Ehre zuteil, den Halbgott ins Konzert zu lotsen, bei dem er mit einigen seiner eigenen Klavierstücke die Streichermusik unterbrechen sollte. “Sie bringen ihn lebend oder tot”, lautete Suks strenger Befehl. Er hatte richtig vorausgeahnt. Reger saß in seinem Zimmer bei Kognak, er war nicht mehr in schlichtmenschlichen Regionen. Dennoch gelang es mir, ihn ins übliche Virtuosenkostüm, in Frack und Lackstiefel, zu introduzieren. Stolz wies er auf die goldgestickten Ornamente der Frackreverse. “Da sehen Sie dir Palmen an meinem Frack”, fuhr er mich an. “Die hat nicht einmal der Richard Strauß. Das ist das Ehrendoktorat von Oxford.”3 Die Stiefel konnte er nicht ankriegen, das Hotelstubenmädchen mußte gerufen werden. Sie tat ihr Möglichstes, wie der Bürgermeister in der berühmten Szene von “König Otokars Glück und Ende”. Reger war höchst unzufrieden. “Das soll ein Knoten sein?” unwirschte er und zeigte dem Mädchen, wie er, er persönlich den Knoten haben wollte. “Sehn Sie”, wandte er sich schnaubend an mich, “alles müssen die Menschen von mir lernen, alles muß ich sie unterrichten, sogar wie man einen Stiefelknoten bindet.”
– Nun, das wird ja heute abend im Konzert schön werden, dachte ich herzensbekümmert.
Und dann, im großen Saal, spielte Reger mit einer Zartheit, einer gottergriffenen Innigkeit, einer Feinheit und Präzision, wie ich zeitlebens nie wieder Klavierspielen gehört habe.